Noch ein Wende-Roman ebenfalls ohne Tanz auf der Mauer
Heimat – was ist Heimat? Der Ort an dem man geboren ist? Wo man aufgewachsen ist, sozialisiert wurde, wo man letztlich seßhaft wurde oder auch blieb oder einfach der Ort, wo das du ist, die Liebe? Adam und Evelyn stellen sich diese Frage in Ingo Schulzes (1962 in Dresden) gleichnamigen Buch, das 2008 erschienen ist. Geraten sie doch auf einer Urlaubsreise an den Plattensee in den Strudel der Grenzöffnungen in Ungarn. Wo sie mäandernd von Beziehung zu Beziehung und Ort zu Ort im Strudel der Ereignisse und dem Schwebezustand plötzlicher Wahlfreiheit in fiebriger Unruhe ihre persönliche Tragikkomödie erleben.
Franziska Brinks hat uns diesen Wenderoman bereits ans Herz gelegt als ich über Stern 111 von Lutz Seiler schrieb. Was mich erschütterte in beiden Büchern, die gelebte und erlebte Kleinbürgerlichkeit, man kann sie natürlich auch Paradies der einfachen Genüsse nennen, das oftmals so kritiklose Hinnehmen der Ereignisse. Schulze ist ein großartiger Erzähler, auch wenn er oft dem Leser zu kleinliche Details zumutet, die jedoch zur dichten Atmosphäre beitragen. Jüngst erschien sein neuer Roman „Die rechtschaffenen Mörder“, den uns Inga empfohlen hat.
Was von dem biblisch angehauchten Roman – es genügt nicht, wenn man Kurt Flasch zitiert – für mich bleibt, ist immer wieder Erstaunen darüber, wie fremd uns die Bewohner des anderen Deutschlands nach fast einem halben Jahrhundert letztlich waren und wie viel mehr man hier hätte an Information und Zuwendung liefern müssen, ein freudetrunkener Tanz auf der Mauer spiegelte durchaus nicht die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen wieder.
Hier noch einmal was Franziska Brinks dazu schrieb:
In der Ausnahmesituation jenes Spätsommers 1989, im Schwebezustand plötzlicher Wahlfreiheit, entdeckt Ingo Schulze die menschliche Urgeschichte von Verbot und Verlockung, Liebe und Erkenntnis und nicht zuletzt der Sehnsucht nach dem Paradies. Doch wo ist das zu finden? In der Verheißung des Westens, der Ungebundenheit eines endlosen Feriensommers am Plattensee oder doch im Amtsstubenduft einer frisch geöffneten Brotkapsel und dem eigenen Garten?
Im Spiel mit dem biblischen Mythos von Adam und Eva gelingt Ingo Schulze eine grandiose Tragikomödie. Mit seinem vieldeutigen Begriff vom Sündenfall findet er eine Chiffre für den Eintritt in unsere heutige Welt….(Klappentext)
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren, studierte klassische Philologie in Jena und arbeitete in Altenburg als Schauspieldramaturg……er hat sehr viele Preise gewonnen….
Das Buch Adam und Evelyn ist ausgezeichnet geschrieben und sei sehr authentisch, sagt Franziska und begründet das mit begeisterter Bestätigung unserer angeheiraten Verwandten aus der ehemaligen DDR --Man müsse sich halt für das Thema interessieren.
Wohin mit unseren gutgemeinten Bemühungen in der Flüchtlingsfrage?
Ein kleines fremdländisches niedliches Mädchen, das wird mehrfach betont, wird in einer fremden Stadt, deren Sprache sie nicht versteht, ausgesetzt und obwohl alle Menschen, die sie trifft, gut zu ihr sind, geht am Ende alles schief und endet in Blut und Gewalt. Und einem Rudel verlorener Kinder.
Michael Köhlmeier (1949), österreichischer Schriftsteller, eher Dichter, der sich auch vehement politisch gegen Nationalismus engagiert, schrieb zahlreiche Romane, die vielfach übersetzt und mit zahllosen Preisen bedacht wurden. Er liebt Märchen, widmete Ihnen ein Buch und eine Fernsehserie mit Nacherzählungen.
Seine 2016 erschienene Erzählung: Das Mädchen mit dem Fingerhut besticht durch lakonische, aber glasklare Sprache. Doch ich frage mich: Müssen Dichter unbedingt irgendwie depressiv sein? Um gut schreiben zu können? Jede Zeile atmet Einsamkeit und Verzweiflung, wird hier immer noch der Tod der Tochter Paula verarbeitet, oder will uns Köhlmeier unser „Gutmenschentum“ um die Ohren hauen und uns zeigen, daß bei kindlichen Traumata wir alles nur noch schlimmer machen? Soll, kann man Flüchtlinge gar nicht integrieren, weil sie zu viel von ihrer Herkunft mit sich herumschleppen, nie dort ankommen, wo sie angekommen sind? Was soll das als Botschaft taugen? Faszinierend zu lesen aber für mich bleiben zu viele Fragezeichen.
Offensichtlich auch für die Rezensenten der einzelnen Zeitungen, die sich – dem renommierten Dichter geschuldet – teilweise in mehr als verschwurbelten Phrasen ergehen.
Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 26.05.2016
Das Titelbild, also der erste Eindruck von Michael Köhlmeiers kleinem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" trügt, warnt Rezensent Hubert Winkels. Das ist kein Roman über ein erbarmungswürdiges kleines Mädchen. Es ist auch kein Märchen oder ein Flüchtlingsroman. Man könne es zwar so lesen, doch die Intensität, die Köhlmeier hier wortkarg entfaltet, bekommt man mit solchen Einordnungen nicht zu fassen, findet Winkels. Dieser Roman ist grausam. Das Mädchen und zwei andere Kinder verweigern jede Kommunikation, eine Frau, die das Kind erziehen will, wird umgebracht. Humane Integration? Wird von den Kindern nicht mal als Möglichkeit erkannt. Diese Botschaft wird noch stärker durch den super reduzierten Stil Köhlmeier, lobt Winkels.
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.05.2016
Gerhard Melzer hat das Buch der Stunde gefunden. Michael Köhlmeiers Roman um zwei entwurzelte Kinder auf der Suche nach Wärme und Nahrung hat für ihn die Allgemeingültigkeit und das utopische Potenzial des Märchens und verweist zugleich auf das aktuelle Geschehen um Flucht und Vertreibung. Die Form des Märchens entspricht laut Melzer der Raum- und Zeitlosigkeit der Kinder ganz gut. Durch die Reduktion auf wesentliche menschliche Bedürfnisse bekommt das Geschehen im Text archaische Wucht, meint Melzer. Interessant erscheint ihm die damit vorgenommene Umdeutung des Guten vom Moralischen ins Materialistische bei Köhlmeier.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2016
Rezensent Wolfgang Schneider hat Michael Köhlmeiers Märchenparabel über Wolfskinder schnell gelesen. Umso länger gibt sie ihm zu denken, denn er entdeckt darin die Ambivalenzen des Denkens in Zeiten der Flüchtlingskrise. Sind sie nun bemitleidenswert, diese Kinder, die auf sich gestellt betteln und stehlen, oder nicht? Das wäre die realistische Lesart. Doch Köhlmeier bietet dem Rezensenten auch eine zweite, die den Reiz des Mythischen hat und die der Autor geschickt ausgestaltet. Überhaupt staunt Schneider über die stilistische Wandlungsfähigkeit des Autors, der in diesem Buch anders als in seinen anderen und mit einer Andersen-Figur, einer Mitleidsfee, im Mittelpunkt, so raffiniert am Märchen laboriert.
Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.03.2016
Dieser Roman setzt Maßstäbe für all jene Autoren, die künftig aus ihrer Vorstellungskraft über Fremdheit und Überleben schreiben wollen, konstatiert Insa Wilke. Denn Michael Köhlmeier bricht alle Erwartungen an seinen Roman, fährt die Kritikerin fort, die hier nicht einfach eine märchenhaft erzählte Geschichte über ein verlassenes Flüchtlingsmädchen in der Fremde liest. Vielmehr gelingt dem Autor etwas Außergewöhnliches, verspricht Wilke: Er nähert sich dem Kind mit größtmöglicher Distanz und befreit von jeglichen Gefühlsanwandlungen und Sentimentalitäten, so dass die Wahrnehmung des Kindes umso stärker hervortritt, informiert die Rezensentin. Zugleich erscheinen ihr Köhlmeiers kindliche Protagonisten als Reflexionsflächen, an denen man die Ungerührtheit der Gesellschaft ablesen kann. Ein stiller Roman, der mit den "Urkräften des Erzählens" spielt, schließt die eingenommene Kritikerin.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 30.01.2016
Mit Michael Köhlmeiers neuem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" hat Rezensentin Judith von Sternburg ein ganz wunderbares Buch entdeckt, das es im ausgehenden westeuropäischen 20. Jahrhundert so lange nicht gegeben habe. Ob es sich bei dieser rätselhaften Geschichte um ein kleines elternloses Mädchen, das verlassen durch den Winter einer Großstadt streift, tatsächlich um ein Märchen handelt, vermag die Kritikerin nicht zu sagen. In jedem Fall aber wird sie von dem bitteren Schicksal des Mädchens, das der Rezensentin wie ein verwaistes Flüchtlingskind erscheint, in den Bann gezogen. Und wie Köhlmeier die Sprachlosigkeit, die Verständigungsprobleme und das Staunen des Kindes durch eine unmarinierte, vereinfachte Sprache erzeugt, ringt der Kritikerin ohnehin größte Anerkennung ab.
Das Gesicht Afghanistans
Unbegleiteter weiblicher minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan genauer aus Kabul. Wer von uns kann sich vorstellen, was das bedeutet. Wer kann überhaupt ermessen, was dem Land und den Menschen, den Frauen dort angetan wurde, was passierte zunächst unter den Mudschahedin unter russischer Besatzung wo es noch einigermaßen geordnet zuging, bis dann zu den Taliban, die selbst in den entlegensten Dörfern Angst, Schrecken und die Scharia verbreiteten.
Samar, ein etwa zwölfjähriges Mädchen sitzt mit ihrer Familie in der transsibirischen Eisenbahn nach Moskau nach abenteuerlicher Flucht.“Ich war fünf Jahre alt, als wir Kabul für immer verließen. Es ist schrecklich mitten in der Nacht aus dem eigenen Haus fliehen zu müssen, die Angst in den Augen seiner Eltern zu sehen und zu wissen, daß man nie wieder zurückkehren wird. Es ist schrecklich nirgendwo hin zu gehören. Doch wenn man nicht länger lesen, lernen, singen oder auch nur allein in der Sonne spazieren gehen kann, kann man nicht leben…“
Sobald man den Titel des Buches ,,Als die Träume in den Himmel stiegen“, den Debütroman (2017 TB) der irischen Schriftstellerin Laura McVeigh liest, kann man sich bereits denken, dass es sich um eine traurige Geschichte handeln muss, doch wie traurig und brutal die wirklich ist, kann man nicht mal im Geringsten erahnen.
Samar findet Zuflucht in ihrer lebhaften Phantasie, in der sie von ihrer toten und verschollenen Familie umgeben ist, über die sie schreibt. Es ist anfangs bezaubernd wie sie ihre große Familie beschreibt.
Nicht so überwältigend wie Khaled Hosseini und sein „Drachenläufer“ (2008 hier - bereits 2007 in USA verfilmt) aber da aus weiblicher Sicht, enorm lesenswert.
Wer sich über die afghanische Tragödie informieren will, Argumente in der Flüchtlingsfrage haben will, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Filmrechte sind verkauft.
Afghanisches Essen vielfältig und aromareich
Hervorragendes orientalisches Essen gibt's im Safran - der Name ist Programm. Die Aromen sind fein, die Speisen nicht überwürzt, der Service reizend und das Ambiente stimmig - helle lichte Farben. Nicht von dem etwas ältlichen Stil des kleinen Hauses und dem ungepflegten Parkplatz vor der Tür abschrecken lassen. Das Foto "Afghanisches Mädchen mit grünen Augen" von Steve McCurry, "das Gesicht Afghanistans", wie es im Westen genannt wurde, schmückt eine Wand und regt den Gast zum Nachdenken an über ein im Prinzip wunderschönes Land, das seit der Unabhängigkeit von britischer Herrschaft nach kurzen modernen teils demokratischen Zeiten, in denen etliche Europäer als Touristen kamen (auch durch den sogenannten Hippie trail), seit dem Ende der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von einem militärischen Konflikt nach dem anderen heimgesucht wird und von Seiten der Taliban mit einer Welle der Gewalt überrollt und vom islamischen Saat bedroht wird. Da freut man sich als Gast umso mehr, wenn eine junge Frau mit Hilfe ihrer Mutter, die alles frisch und persönlich kocht, hier eigenständig ein Lokal führt und damit wirklich Erfolg hat.
Es gibt neben Fleisch zahlreiche vegetarische und auch vegane Gerichte. Der Safranreis ist ein Traum, die Süßspeisen göttlich. Tolle und wunderschön präsentierte Vorspeisen. Drei offene Biere, ordentlicher offener Wein, auch Flaschen und auch sonst große Getränkeauswahl. Hingehen und probieren. Am nettesten ist es zu mehreren, wenn man verschiedenes testen kann. Und nur Mut, lassen sie sich von der engagierten jungen Gastgeberin beraten.